Pepi
Gelbstirnamazone träumt musikalisch
Die Reihe ist nun an Charlie. Der drahtige Pinschermischling mit dem pechschwarzen, struppigen Fell ist heute zum Impfen da und der Erwerb der blinkenden Tollwutplakette sein und Frauchens größtes Plaisir für den Tag. "Alter Bär", nennt Renate Lorenz liebevoll den fidelen Quirl mit den seelenvollen Augen, die ahnen lassen: Stille Wasser, die sind tief und erpicht auf viele Abenteuer. An der Leine gehen, wie es Frauchen sich beim Spaziergang in den Feldern von Großbeeren, Heinersdorf und Diedersdorf wünscht - denn dort herrscht Leinenzwang wegen akuter Tollwutgefahr - gehört jedoch sicher nicht zu den Abenteuern, die sich das kräftige Tier von schwer bestimmbarer Rasse für die schönsten Jahre seines Hundelebens erträumt hat.
Tierärztin Renate Lorenz zeigt hier unausgesprochen Verständnis, setzt engagiert die Spritze an, die Charlie, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, regungslos über sich ergehen lässt, um sodann mit von Stolz geschwellter Brust die begehrte Plakette mit der Lizenz zu neuen Abenteuern in Gottes freier Natur sein eigen nennen zu dürfen. Schon baumelt sie an seinem roten Halsband, was Charlie dazu bewegt, sich erhaben zu recken, um sich dem Betrachter von allen Seiten und in stattlicher Größe zu zeigen. Als Belohnung für so viel Tapferkeit und um diesen Tag gänzlich perfekt zu machen, gibt es dann noch ein Leckerchen aus den Händen seiner Lieblingstierärztin persönlich. Frauchen indes hat noch die eine oder andere Frage mit Renate Lorenz zu klären. Es macht ihr Sorgen, dass Charlie die Treppe zu Hause nicht mehr in dem Tempo schafft wie früher, als er ein "junger Spund" war, ja manchmal scheint er sogar ein wenig zu lahmen, und zwei Zähne sind auch locker.
Dann geht die Tür zum OP auf und Renate Lorenz wendet sich wieder Aaron zu. Der Terriermischling, dem es an diesem schicksalhaften Morgen beherzten Schnittes an seine Mannespracht ging, ist noch ein wenig schläfrig, aber nach überstandener Prozedur augenscheinlich guter Dinge. Ob es daran liegt, dass Willi, der feinfühlige Chirurg mit dem zuweilen durchbrechenden Kölschen Dialekt, ihm zum Aufwachen "Somewhere over the rainbow" vorgespielt hat, obwohl Willi selbst anerkannter Genesis-Fan und moderater Hard Rocker ist? Das dürfte wohl ein Geheimnis bleiben.
Kein Geheimnis hingegen ist, dass im Käfig an der Wand der mit seinen 17 Jahren famoserweise noch erstaunlich junge Haus-Papagei Pepi, seines Zeichens Gelbstirnamazone und exotischer Strahlemann im grünen Federlook mit roten und blauen Farbtupfen, bei dieser Melodie stets traumversunken durch die umlaufenden, großzügigen Fensterfronten des OP nach draußen in den Garten stiert. Nicht weil gerade mal wieder ein paar Sonnenstrahlen ihn verlockend am in allen nur denkbaren Grüntönen schimmernden Bauch gekitzelt hätten oder die Dame seines Herzens im luftigen Federkleid vorbeigeflattert wäre. Nein, das sind nicht die Gründe, die ihn zum Träumen bringen. Pepi, der nach dem Tod seines Besitzers nun voll und ganz zum Haus Lorenz gehört, liebt etwas anderes, und zwar mit aller einer Gelbstirnamazone eigenen Emotion. Er liebt - und dabei kraust sich der markante gelbe Fleck über seinem neckisch gebogenen Krummschnabel vor Aufregung - die Musik! In ihren sanften und in ihren starken Tönen. Der melodische Song von Pete "Wyoming" Bender, Wahlberliner mit amerikanischen Wurzeln, ist hier ausgewiesenermaßen eines seiner Lieblingsstücke, wie ich auf konsequentes Nachfragen erfahre, und nur noch zu toppen, wenn Willi "I can get no satisfaction" anspielt. Und was diese Liebhaberei anlangt - da ist man sich im Hause Lorenz sicher - dürfte Pepi auf dieser Welt wohl der einzige noch lebende, gefiederte Rolling Stones Fan seiner Gattung sein.
"Ziehen Sie ihm doch einfach 'nen alten Schlüpper über, wenn Sie keinen
Kragen oder eine alte Hose haben", unterbricht unterdessen Renate Lorenz
im Behandlungszimmer nebenan Pepis musikalische Träumerei am Morgen
durch einen eher weltlichen, lebenspraktischen Auftritt, Marke Feinripp.
Denn sie ist schon wieder mitten im Gespräch mit Aarons Frauchen, gibt
Tipps und Anweisungen und verordnet den Besuch nachmittags um fünf
zwecks Kontrolluntersuchung des Operationsergebnisses und falls es
zwischendurch Probleme gäbe, möge sie sich ruhig auch in der Mittagszeit
bei ihr melden. Dann trägt Praxisperle Susi den inzwischen schon wieder
schwanzwedelnden und mit weit aufgerissenem Maul gähnenden Aaron zum
Ausschlafen ins Auto.
Willi,
Pragmatiker ohne Furcht und Tadel und Mann fürs Grobe, wie er sich
selber schimpft, macht sich derweil fertig für die nächste Operation.
Eine zweite Kastration steht heute auf dem vollen OP-Programm. Er wäscht
sich gründlich die Hände im Keramik-Waschbecken, das Büro- und
Hauskatze Lotti in weiser Voraussicht verlassen hat, und verschwindet
sang- und klanglos nach nebenan, um mit Helferin Ya, die seit Jahren für
Renate Lorenz arbeitet, die Instrumente vorzubereiten. Schließlich ist
im Behandlungszimmer auch kaum noch ein Bein auf die Erde zu bekommen.
Vater, Mutter, Sohn und Tochter, selbige ausstaffiert mit
MP3-Ohrstöpseln, und Katze Julia, die gestern schon für die
Vorbesprechung der Angelegenheit angerückt waren und in geballter Fülle
den Warteraum bevölkerten, sind wieder da, und Julia, zitternd mit
angespanntem Katzenbuckel, sitzt verschreckt in ihrem Körbchen. Zart und
jung ist sie und so aufgeregt wie die ganze Familie schon am Tage
zuvor.
Jetzt ist nur noch der Vater des vierköpfigen Clans im Raum, und auch der muss nach Julias Narkosespritze und nachdem Renate Lorenz inzwischen bestens im Bilde ist über laufende Geschäfte, unbezahlte Kundenrechnungen im Sanitärbetrieb und andere Sorgen und Nöte des selbstständigen Handwerkers und seiner Familie, gehen. Wieder schließt sich die gläserne Tür zum OP fast geräuschlos und bevor Susi, die gerade erst Katze Julia selig schlummernd in Yas Armen zurückgelassen hat, die Tür zum Behandlungszimmer für den nächsten Patienten öffnen kann, klopft es leise, aber eindringlich.
Von Rosa Bunt