Katerchen

Irgendwann fordert das Leben seinen Tribut

Ein letzter Frühsommer für einen alten Kater

"Hallo, Frau Doktor, bin wieder mal da mit Katerchen", raunt eine sonore Stimme in den Raum. Seit etlichen Monaten kommt Katerchen in die Praxis, denn er schwächelt ob seines fortgeschrittenen Alters.

Erst die getilgten Katzenflöhe, die ihn höllisch nervten, sodass er sich sogar die eine oder andere Bisswunde selbst zufügte. Dann die leidige Entzündung im Maul, die ihm schon lange das Leben schwer und das Fressen fast unmöglich macht und immer wieder auftritt. Danach der Schlaganfall, den das Tier erleiden musste, mit dem Ergebnis, dass es heute lahmt, denn seine linke Körperhälfte macht nicht mehr so mit, wie Katerchen sich das wünscht. Und last but not least: Der permanente Durchfall quält, wodurch er heute nicht mehr als Haut und Knochen ist.

Der einstige Wald-und-Wiesen-Tiger ist jetzt ein echter Ritter von der traurigen Gestalt, dem selbst das gelegentliche Herumstreunen im heimischen Garten zur Qual wird. "Malad bis in den letzten Katzenknochen", kommentiert sein Herrchen sachlich-nüchtern wie immer und doch angespannt die Lage, und Katerchen hat längst die Nase voll! Er schlägt seine langen, scharfen Krallen in den Stoff der karierten Sofadecke und beißt Chirurg Willi mit seinen maroden, aber immer noch spitzen Zähnen zur Begrüßung in die Hand. Dazu faucht er, was das Zeug hält und seine altersschwachen Kräfte hergeben.

Renate Lorenz schreckt das nicht. Sie tätschelt ihm ganz sanft den inzwischen kantig gewordenen Kopf mit den langen Schnurrhaaren, was Katerchen sich anscheinend gern gefallen lässt, legt die Infusion, die er einmal wöchentlich zur Kräftigung bekommt, und verabreicht die Aufbauspritze, die ihn wieder über die nächsten Tage bringen soll. "Katerchen genießt den Frühsommer. Nehme an, seinen letzten", konstatiert sein Begleiter, die Träne im Knopfloch sicher versteckt. "Nachdem er den ganzen Winter über faul auf dem Fensterbrett im Wintergarten gelegen und keinen Schritt vor die Tür gemacht hat, schnuppert er nun bei seinen erneuten Spaziergängen im Garten unter jedem Busch und Strauch, als ginge er noch einmal sein kleines Revier ab, um sich an alles zu erinnern - und bei dem Busch Katzenminze am Zaun zu Nachbars Garten, da gerät er völlig aus dem Häuschen, schnuppert und steckt die Nase noch tiefer hinein, als sei's die neueste Kreation aus der Duftkollektion von Chanel."

Renate Lorenz schweigt, und jeder versteht, was diese Stille sagen soll - und Herrchen fragt nicht nach. Als er mit Katerchen im Korb die Tür hinter sich schließt, fasst sie das Ungesagte in Worte. "Ist ein toller Hirsch gewesen! Aber jetzt sind seine Augen traurig. Viel zu traurig! Er will nicht mehr. Denn es geht auf das Ende zu. Das Leben verlangt seinen Tribut."